„Was die mit uns gemacht haben…“

„Was die mit uns gemacht haben…“
Jetzt ist es völlig still im Raum. Wir holen kaum Atem, denn wir ahnen, dass sich jetzt der unmittelbare Blick in den Abgrund öffnet.
So oft gelesen, in unseren Geschichtsbüchern, in der Literatur, so oft gehört in der Schule – ja, es gehörte zum Lernstoff. Aber was war aller „Lernstoff“, alles Lesen und Hören aus der weiten Ferne der Nachgeborenen – im endlich durch viel Mut, Grundgesetz und fester Rechtsform solide unterkellerten und neu errichteten Haus Deutschland – was war das alles gegenüber diesem einen Satz „Was die mit uns gemacht haben…“.
Wir sitzen Yosef gegenüber, geboren 1935 in Wiesbaden, 70 Jahre nach der Shoa, in einer kleinen Jerusalemer Wohnung, schauen auf Berge, hören das Juchzen von Kindern draußen auf einem Spielplatz.

Yosef AronWir hören zu, zitternd, die Tränen zurückhaltend. Die Finger seiner Hände geben ihm Halt, der Rücken ist durchgedrückt, das große Sofa bietet ihm viel Sitzfläche, die er jedoch nur auf der äußersten Kante minimal nutzt.
Yosef erzählt, leise, in gutem Deutsch, konzentriert, gesammelt, erzählt von dem Schmerz der Folter. Nachdem er, fast verhungert, im Konzentrationslager Bergen-Belsen als 7- oder 8-jähriger Junge eine rohe Kartoffel vom Feld aufheben und schnell in seinen Mund schieben will. „Diese Kartoffel gehört nicht dir. Diese Kartoffel gehört dem deutschen Volk!“ Ein deutscher SS-Mann grapscht ihm die Kartoffel aus der Hand.
Und eine gründliche Strafe hat er auch gleich parat: die deutschen SS-Leute reißen Yosef alle Zehennägel raus.
„Schaut her, gerade war ich wieder beim Arzt. Es ist nichts zu machen.“ Yosef zieht einen Fuß unter dem Tisch hervor und zeigt ihn uns – Zeugnis barbarischen Handelns, 70 Jahre danach.
In der Dunkelheit eines fensterlosen Raumes folgen jahrelang Vergewaltigungen, täglich, bis zur Besinnungslosigkeit. Yosef ist bei der Befreiung von Bergen-Belsen nicht bei Bewusstsein. Sein Gedächtnis kehrt erst langsam zurück, zwei Jahre später in Schweizer Pflege und Rehabilitation. Alle anderen Kinder in seiner Baracke haben diese Hölle nicht überlebt.
Seine Mutter wurde mit acht Geschwistern in Auschwitz vergast, nur zwei Geschwister sind mit ihm den deutschen Gaskammern entkommen. Auch sie waren in Bergen-Belsen. Nach Ankunft dort hat er sie nicht wieder gesehen. Nach und nach vergaß er, dass er überhaupt Geschwister hatte. Erst langsam kehrt die Erinnerung zurück. Die drei Geschwister treffen sich wieder. Aber bis heute können sie sich gegenseitig nicht von dem erlebten Grauen erzählen.
70 Jahre nach Bergen-Belsen, nach der Verlassenheit, die auf die Verlassenheit im Konzentrationslager folgte. Die Verlassenheit in Europa, die Verlassenheit im Palästina der Nachkriegszeit, in der er nicht zur Schule gehen darf, sondern in der Küche ausgenutzt wird, die Verlassenheit im Obdachlosen-Leben im Park von Jerusalem, weil es keine Integration von Kindern und Jugendlichen aus Europa im späteren Israel gibt. Dann ist es für Yosef zu spät. Als junger Teenager hat er nicht Lesen und Schreiben gelernt. Eigentlich auf verlorenem Posten. Verlassen und vergessen.
Wenn nicht das Wunder geschehen wäre, dass ein alter Jude, geflüchtet aus Nazi-Deutschland ihn von der Obdachlosen-Bank holt und ihn in ein Café vermittelt, für das ein Kellner gesucht wird. Am liebsten wäre er im Erdboden verschwunden, erzählt Yosef. Er betet in großer Verzweiflung. Eine Stimme, Yeshua, antwortet ihm: ich bin da. Von dem Moment an kann Yosef lesen, schreiben, rechnen und die Sprache! Er übt seinen Beruf als Kellner mit großer Leidenschaft aus, jahrzehntelang.
„Yosef, warum wohnst Du so gern in Jerusalem?
Es ist – weißt du – als ob ich in Watte gepackt wäre. Es ist DER Ort. Es ist MEINE Stadt.“

 

Euer iLANOT

 

Yosef (Mitte) mit seinen zwei älteren Geschwistern nach dem Krieg

Yosefs Mutter mit 7 Geschwistern