Täglich antreffbare jüdische Aristokratie

Der Liedermacher Konstantin Wecker hat einmal in einem Interview über den Holocaust und seine Auswirkungen gesagt: “Wir haben mit dem versuchten Genozid an den Juden die Intelligenz unserer Landes ermordet und vertrieben – das merkt Deutschland bis heute.”

Aber so, wie Konstantin diesen Satz vor ca. 20 Jahren in eine Kamera sprach, zeigte der Ausdruck seines Gesichtes, dass er mit Intelligenz viel mehr meinte, als nur das Reine und Messbare, was mit diesem einen Wort gemeint ist.

Er meinte nämlich nicht nur die Einsteins, die Franks, die Bernsteins und all die anderen Wissenschaftler, Entwickler, Künstler und Nobelpreisträger – deren Wurzeln aus dem deutschsprachigen Raum stammen. Nein – er meinte die Liebe zur Tradition, die Kreativität, den Mut zum Querdenken, das europäisch Weltgewandte, den jüdischen Stolz Deutscher zu sein und er meinte diese besondere humanistische Kultur. Die Kultur des Einzelnen, die Kultur des sich Zeigens und sich als Mensch unter Menschen zu erkennen – heute nennt man das schlichtweg Benehmen. (An dem uns in dieser Zeit so sehr mangelt.)

 

Kopfüber hinein

 

Jüdische Familien und deren Geschichte und Schicksale aus dem mitteleuropäischen Raum des vergangenen und vorvergangenen Jahrhunderts zu recherchieren ist auch die Möglichkeit noch einmal einzutauchen in diese Welt aus Höflichkeit und Bildung, Tradition, Bescheidenheit und einer ungeheuren Wertigkeit, was die eigene Familie aber auch Zusammengehörigkeit, Staatstreue, Freundschaften und Loyalität betrifft.

Man glaubt zu träumen, wenn man in New York auf die Ur-Enkelin eines, aus Deutschland vertriebenen Physik-Nobelpreisträgers trifft, die kaum älter ist als man selbst – oder mit dem Enkel eines aus Leipzig geflohenen Pelzhändlers mailt, der selbst in Ecuador geboren und dort als Arzt arbeitet und mit einem so bemühten, aber doch radebrechenden Deutsch aufwartet, dass ihm das eigene Herz Blumen schickt – weil man selbst so sprachlos ist. Oder wenn man die Enkelkinder eines Mannes in Frankreich findet, der in Halle (aus Karlsbad) nur eine “Zwischenstation” in den 30er Jahren eingelegt hatte, damit seine Frau in Ruhe die zwei Söhne nacheinander auf die Welt bringen konnte.

Es entspinnt sich ein hinreißender Mail-Verkehr mit den sechs Enkeln und Enkelinnen, der nicht mit einem Wort von übertriebener Höflichkeit gespeist – sondern all dem, was oben beschrieben und auch von Konstantin Wecker benannt wurde und im Grunde mit “Aristokratie” betitelt und auf den Punkt gebracht werden kann.

 

wikipedia oder

 

Was ist Aristokratie, werden sich einige sofort fragen und andere werden sogleich feststellen, dass diese Bezeichnung hier falsch ist. Ja, es gibt für alles den Duden, aber genauso gut gibt es für jedes Wort den Volksmund oder das eigene Gefühl. Das Gefühl bzw. den Eindruck, den man von einem Menschen, einer Sache oder einem Geschehen erhält, hat ganz wenig mit einer Enzyklopädie zu tun.

Kurz gesagt: wir, die wir tagtäglich auf Menschen, auf Menschen jüdischen Glaubens während unserer “Arbeit” treffen – persönlich, telefonisch, per mail und/oder Briefkontakt – treffen auf das, was Deutschland durch den Holocaust verloren hat.

 

Wir treffen auf unglaublich schlaue und intelligente Menschen, auf Menschen, die eine besondere Art der Höflichkeit, Freundlichkeit und Zugewandtheit in sich haben. Wir treffen auf Menschen mit jahrhunderte langem Hintergrund, Schicksalen und Werdegängen; auf Menschen, die mehrsprachig, deren Familie buchstäblich auf der ganzen Welt verstreut sind, die dadurch und deshalb weitgereist und fühlbar Weltbürger sind und die mit ganzer Hingabe von ihren Eltern oder Großeltern von “Oma und Opa” schreiben, während sie ihre mails auf englisch, spanisch, hebräisch oder französisch verfassen.

 

Wir treffen auf Menschen die heute Professoren, Konzertpianisten, Doktoren und andere akademische Berufe ausüben. Und natürlich gibt es auch den oder die “einfache” Angestellte darunter – doch der Prozentsatz ist verschwindet gering. Wieso ist das (wohl) so?

Wir treffen auch noch auf die im 3. Reich geschädigten selbst – 1919, 1921 und 1924 geboren. Sie waren in Leipzig, Halle, Dresden oder Berlin Richter, Rechtsanwälte; besaßen Geschäfte oder Firmen. Waren Musiker in der Berliner Philharmonie oder Maler und saßen mit Max Liebermann zum Soirée. Schon ihre Väter und Mütter waren Berliner oder Rauchwarenhändler in Leipzig. Im Namen ihrer Familien wurden Krankenhäuser und Schulen, erste öffentliche Schwimmbäder und Akademien gegründet. Sie spendeten Geld für die Synagoge ebenso wie für Häuser, in denen alleinerziehende Mütter versorgt wurden. Meist waren sie aktive Mitglieder (nicht nur) der jüdischen Gemeinde – auch im Gemeinde- und Stadtrat finden sich ihre Namen und Aktivitäten.

 

Wiederbelebung ist nicht Wiederherstellung

 

Mit deren Kindern oder Enkelkindern heute zu kommunizieren – ist eine Renaissance dessen, was in dieser unserer Zeit fehlt: Selbst-Integration, Bürgerstolz und dadurch Bürgerpflicht, Humanität und zwar von “Human-to-Human”.

Wir werden quasi überschüttet mit authentischer Freundlichkeit, herzlicher Zugewandtheit, viel Witz und Esprit, ganz überraschend viel “Deutsch” und gelebtem “Stolz” auf die deutschen Wurzeln und einem Grad an Bildung und menschlicher Empathie, die greifbar selbst mit dem eigenen Leben erarbeitet wurde – da bleibt einem (salopp ausgedrückt) das ein oder andere mal entweder die Spucke weg oder das Herz fast stehen.

 

Hiermit danken wir auch allen Familien, einzigen Überlebenden und einsamen Nachkommen für Ihren Mut, ihre Offenheit und die tolle Zusammenarbeit, die sie uns schenken.

 

Euer iLANOT